Definition von Narrativ:
Ein Narrativ ist eine sinnstrukturierende Erzählung, mit der Individuen, Gruppen oder Gesellschaften Erfahrungen ordnen, identitätsstiftend deuten und kommunizierbar machen. Es ist mehr als eine Geschichte: Es ist ein Deutungsmuster, durch das Erleben in Form einer zeitlich, logisch und emotional zusammenhängenden Erzählung gegliedert wird.
Der Begriff des Narrativs wird interdisziplinär genutzt in Literaturwissenschaft, Soziologie, Anthropologie, Medienwissenschaft, Psychologie und Therapie mit je unterschiedlichen Akzentuierungen. In der systemischen Beratung und Therapie liegt der Fokus auf der funktionalen Rolle von Narrativen bei der Konstruktion von Identität, der Aufrechterhaltung von Beziehungsmustern und der Erzeugung von (sozial geteiltem) Sinn.
Narrative Verfahren basieren auf der Idee, dass Menschen ihr Leben und ihre Identität durch Geschichten konstruieren, die sie über sich selbst und ihre Beziehungen erzählen. Diese Ansätze fokussieren auf das Erkunden und Umgestalten dieser Lebensgeschichten, um dysfunktionale Narrative zu verändern und die Identität positiv zu beeinflussen.
Anwendung in der systemischen Beratung und Therapie:
Systemische Beraterinnen und Therapeuten ermutigen Klienten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und zu reflektieren. Durch das Neuerzählen und Umdeuten der Geschichten können Klienten ein neues Verständnis für ihre Erfahrungen gewinnen und sich von einschränkenden Narrativen lösen.
In der systemischen Praxis werden Narrative als konstruktive Sinnsysteme verstanden, die auf individueller, relationaler und kultureller Ebene wirksam sind. Sie beeinflussen:
- Wie sich Menschen selbst sehen
- Wie sie ihre Beziehungen gestalten
- Wie sie Probleme erleben oder bewältigen
- Welche Handlungsmöglichkeiten ihnen verfügbar erscheinen
Wichtige narrative Interventionen:
- Externalisierung: Das Problem wird aus der Person „herausgeholt“ („Die Angst hat heute wieder viel Raum eingenommen.“)
- Re-Autorisierung: Klientinnen schreiben ihre Geschichte neu („Welche Ihrer Fähigkeiten waren damals trotzdem wirksam?“)
- Arbeit an Alternativnarrativen: Ressourcen, Ausnahmen und bedeutsame Wendepunkte werden bewusst integriert
- Reflexion dominanter sozialer Narrative: Gesellschaftliche Erwartungen werden sichtbar gemacht und hinterfragt („Wie muss man Ihrer Meinung nach als Mutter sein?“)
Bedeutung und Nutzen für die systemische Praxis:
Narrative eröffnen vielfältige Möglichkeiten zur Veränderung, weil sie eine Deutungsflexibilität erlauben. Menschen erleben sich nicht einfach „so, wie sie sind“, sondern in einer Geschichte, in der sie eine bestimmte Rolle spielen und diese Rolle lässt sich neu verhandeln.
Narrative Verfahren unterstützen die Selbstwirksamkeit und Autonomie der Klienten, indem sie ihnen helfen, Autor ihrer eigenen Lebensgeschichte zu sein. Dies kann das Selbstwertgefühl stärken und zu einer positiveren Lebensgestaltung beitragen.
Drei systemisch relevante Ebenen:
- Individuelle Ebene (Selbsterzählung)
Menschen strukturieren ihre Biografie über „Erzähllinien“. Manche Geschichten sind kohärent und kraftvoll, andere problemgesättigt. Die therapeutische Arbeit fragt:
„Welche Geschichte über sich selbst erzählen Sie und wie hilfreich ist sie heute noch?“
2. Interpersonelle Ebene (Beziehungsgeschichten)
Paare, Familien oder Teams konstruieren gemeinsame Narrative („Wir haben immer durchgehalten“, „Er ist halt der Schwierige“). Diese sind bindend, aber auch begrenzend. Systemische Beratung kann hier neue Deutungsräume öffnen.
3. Gesellschaftlich-kulturelle Ebene (Diskurse und „Master Stories“)
Menschen leben in kulturell geprägten Erzählräumen über Erfolg, Gender, Leistung, Körper, Familie etc. Systemisch-narrative Praxis macht diese Diskurse sichtbar und lädt ein, eigene Gegennarrative zu entwickeln, insbesondere bei marginalisierten oder diskriminierten Gruppen.
Kritik:
Kritisch betrachtet werden kann, dass die Konzentration auf narrative Konstruktionen dazu führen kann, die Bedeutung realer, externer Bedingungen und sozialer Einflüsse zu unterschätzen. Es ist wichtig, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Anerkennung der Macht von Geschichten und der Anerkennung realer Lebensumstände zu finden.
Die Arbeit mit Narrativen ist nicht ohne Herausforderungen:
Machtkritik am therapeutischen Setting: Auch Beraterinnen und Therapeuten schreiben mit. Jede Einladung zu einer „neuen Geschichte“ ist selbst ein Eingriff mit normativer Dimension.
Begriffliche Unschärfe: Der Narrativbegriff wird inflationär verwendet – in der Politik, Werbung, Medienanalyse – oft ohne klare Definition.
Vereinfachungsgefahr: Komplexe Lebensgeschichten lassen sich nicht vollständig „umschreiben“. Nicht alles ist narrativ beeinflussbar.
Verwechslung von Story und Wirklichkeit: Der Fokus auf Erzählung darf nicht dazu führen, reale Machtverhältnisse oder strukturelle Bedingungen zu übersehen.